1.2. Zwischen Wachstum und Stagnation: Gespaltenes Sachsen

Dessen ungeachtet ist Sachsen nach wie vor weit von einer sich selbst tragenden Entwicklung entfernt. Dazu haben nicht nur die Konstruktionsfehler der deutschen Einheit, die Auswirkungen von Neoliberalismus und Deregulierung im Allgemeinen sowie der AGENDA 2010 und der Hartz IV-Gesetze im Besonderen beigetragen, sondern auch zahlreiche Fehlleistungen in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der bisherigen Landesregierungen Sachsens. Dazu gehören z. B. die starke Orientierung der sächsischen Industrie auf die globalen Märkte und damit auf den Export, die Profilierung von Sachsen als Billiglohnland, die Vernachlässigung von Binnenkaufkraft und Binnenmarkt sowie die Fehlentscheidungen, die zum Notverkauf der Landesbank Sachsen (Sachsen LB) führten. Die sozial-ökonomischen Folgen dieser und weiterer falscher Weichenstellungen sind tagtäglich in Sachsen zu spüren:

Die Wirtschaftsentwicklung in Sachsen verläuft sehr unterschiedlich: Sektoren und Branchen mit Wirtschaftswachstum stehen solche mit stagnierender oder gar sinkender Wirtschaftskraft gegenüber. Eine dynamische Entwicklung wiesen bislang vor allem diejenigen Sektoren, Branchen und Betriebe auf, die – wie weite Teile des verarbeitenden Gewerbes – export- bzw. fernabsatzorientiert sind. Die Fortsetzung dieser Dynamik ist aufgrund der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise allerdings gefährdet und überdies strategisch nicht immer sinnvoll. Andere Bereiche, wie das Gros der Gesundheitswirtschaft, profitieren von der Alterung der Gesellschaft und den damit verbundenen Nachfrageverschiebungen. Segmenten der Ernährungswirtschaft (z.B. dem ökologischen Landbau) und des Tourismus (etwa dem Städtetourismus) gelingt es, Marktnischen zu besetzen. Demgegenüber sehen sich viele Wirtschaftsbereiche, die von der Binnennachfrage abhängig sind und damit bedeutende Teile der sächsischen Wirtschaft stellen, mit stagnierenden oder sogar negativen Wachstumsraten konfrontiert. Insgesamt ist die Wirtschaftsdynamik in Sachsen mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von lediglich etwa zwei Prozent in den letzten zehn Jahren im bundesweiten wie auch im europäischen Vergleich nur schwach, was sich in einer stagnierenden Arbeitskräftenachfrage (das Arbeitsvolumen verharrt bei etwa 2.900 Mio. Arbeitsstunden jährlich) und in nur sehr langsam wachsenden Steuereinnahmen niederschlägt.

Der Arbeitsmarkt Sachsens ist in mehrfacher Hinsicht gespalten: Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen und verbeamteten Beschäftigungsverhältnisse steigt zwar seit 2005 kontinuierlich an, dabei nimmt jedoch der Anteil von Teilzeitbeschäftigung und niedrig entlohnter sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu. Prekäre und nicht existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse (wie z.B. „1-Euro-Jobs“, Mini- und Midijobs, Leih- bzw. Zeitarbeit, Werkvertrags- bzw. Werkvertragsleiharbeit, Scheinselbständigkeit) greifen um sich und prägen größer werdende Teile des Arbeitsmarktes. Inzwischen müssen sich im Freistaat etwa ein Drittel der insgesamt 1,95 Mio. Erwerbstätigen in derartigen Beschäftigungsformen verdingen. Dem nicht vollständig und vor allem nicht kurzfristig zu bedienenden Fachkräftebedarf in einzelnen Berufs- und Qualifikationsgruppen stehen ein im Landesdurchschnitt immer noch hohes Niveau von Arbeitslosigkeit, vor allem verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit, sowie Unterbeschäftigung gegenüber. Auch räumlich zeigt sich der Arbeitsmarkt gespalten. Landkreisen und Städten mit fast einstelligen Arbeitslosenquoten (z.B. der Vogtlandkreis, Dresden und Zwickau) stehen solche gegenüber, die Arbeitslosenquoten von über zwölf Prozent aufweisen. Die problematische Situation der teilweise hohen Arbeitslosenquoten verschärft sich für die Betroffenen zusätzlich durch die soziale Segmentierung und Stigmatisierung von Arbeitslosen in verschiedene Gruppen.

Der Arbeitsmarkt in Sachsen ist weiterhin durch die Folgen der Niedriglohnstrategie geprägt. Die durchschnittliche Entlohnung liegt in Sachsen mit 2240 Euro brutto unter dem Durchschnitt der ostdeutschen Bundesländer (2350 Euro). Damit liegt Sachsen sogar noch hinter Mecklenburg-Vorpommern, wo durchschnittlich 30 Euro mehr verdient werden. Auf Vollzeitäquivalente umgerechnet haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Sachsen lediglich 75 Prozent des Westniveaus erreicht.

Festzustellen ist in Sachsen außerdem eine zunehmende Differenzierung zwischen den Regionen und Räumen: Wachstumspolen hinsichtlich Wirtschaftskraft, Beschäftigung und Bevölkerung stehen Regionen und Räume gegenüber, in denen Schrumpfungsprozesse dominieren. Sind es vor allem die Städte Dresden und Leipzig sowie deren unmittelbare „Speckgürtel“, die bisher zu den Gewinnern dieser räumlichen Ausdifferenzierung zählen, so sind es die ländlich-peripheren und strukturschwachen Regionen im Freistaat (z.B. die Regionen mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit), die gegenwärtig als Verlierer bezeichnet werden müssen. Aber auch in den Großstädten Sachsens selbst zeigt sich eine Spaltung. So ist Leipzig neben wachsenden Bevölkerungs-, Beschäftigungs- und Wertschöpfungskennziffern auch durch eine hohe Dauerarbeitslosigkeit und einen anhaltend hohen Armutsstand geprägt. Auch in den Großstädten existieren neben stabilen Stadtquartieren Stadtviertel, welche sich zunehmend zu sozialen Brennpunkten entwickeln.

Zum Ende dieses Jahrzehnts wird sich der finanzpolitische Rahmen wesentlich ändern. Mit den Mitteln aus dem Solidarpakt II war es über Jahre möglich, vergleichsweise hohe Investitionsquoten zur Finanzierung des infrastrukturellen Nachholbedarfs darzustellen. Gleichzeitig standen europäische Fördermittel in erheblichem Umfang zur Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung bereit. Mit dem Auslaufen des Solidarpakts II und der Förderperiode der Europäischen Union verschlechtert sich die Investitionsfähigkeit des Freistaates erheblich. In den letzten Jahren konnten die bereits schrittweise wegfallenden Mittel zwar durch Steuereinnahmen kompensiert werden, allerdings ergab sich daraus kein zusätzlicher Spielraum.

Parallel zu dieser, durch Sachsen wenig zu beeinflussenden Entwicklung hat das selbst verschuldete Desaster um die Sachsen LB dem Freistaat eine zusätzliche Last von 2,75 Milliarden Euro aufgebürdet. Mit jährlich um rund 200 Mio. Euro sinkenden Zuflüssen aus dem Solidarpakt II, 100 Mio. Euro Zusatzausgaben für die Landesbank-Pleite und einer voraussichtlichen Mindereinnahme im dreistelligen Millionenbereich aus Mitteln der Europäischen Union nimmt die Investitionsfähigkeit des Freistaates weiter stetig ab, während der Bindungsgrad der verbleibenden Mittel tendenziell steigt. Spielräume zur Haushaltsgestaltung sind dennoch vorhanden.

Um vor diesem strukturpolitischen Hintergrund und angesichts der bestehenden Problemdimensionen sowie Herausforderungen in Sachsen den Umbau zu einer nachhaltigen, sozial-ökologischen Wirtschaftsweise einzuleiten, bedarf es eines handlungsfähigen und demokratisch verfassten Staates.