Seit einiger Zeit wird öffentlich über eine nötige Reformierung von Hartz IV diskutiert. Eine wichtige Frage dabei: sind Sanktionen überhaupt berechtigt? Immerhin hatte das Bundesverfassungsgericht bereit 2010 in einem Grundsatzurteil nicht nur gefordert, dass das menschenwürdige Existenzminimum die physische Existenz sowie ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben zu sichern hat, sondern auch klargestellt, dass das Existenzminimum "dem Grunde nach unverfügbar" ist und "eingelöst werden" muss.
Gegen diese Rechtsvorschrift verstoßen die Jobcenter allerdings systematisch, und zwar auf der Grundlage der Paragraphen 31 bis 31b des Sozialgesetzbuches II: Hartz IV-Betroffene werden aufgefordert, eine Eingliederungsvereinbarung zu unterschreiben, in der sie sich zur Mitwirkung an der Arbeitssuche verpflichten. Wogegen moralisch und rechtlich ja nichts einzuwenden ist. In der Rechtsfolgebelehrung werden dann allerdings alle Kürzungen des Existenzminimums aufgeführt, mit denen sie bestraft werden, wenn sie eine Vorschrift des Jobcenters nicht erfüllen. Und das ist das Problem.
Wolfgang Neskovic, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht und Mitglied der Bundestagsfraktion der LINKEN von 2007 bis 2012, unterstrich im Interview im Neuen Deutschland vom 10. Januar 2019 die Bedeutung des oben genannten Gerichtsurteils: "Die Formulierung 'Minimum' heißt unmissverständlich, dass jeder Betrag, der unterhalb dieser festgelegten Grenze liegt, verfassungswidrig ist. ... 'Unverfügbar' ... heißt, dass niemand darüber verfügen kann, auch nicht der Staat, indem er durch Sanktionen den Geldbetrag, der das Existenzminimum darstellt, kürzt oder gar streicht." Auch pädagogische Gründe, wie das Prinzip des "Förderns und Forderns", legitimieren Kürzungen nicht.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 15. Januar dieses Jahres dieses Problem behandelt. Harald Thomé, der als Gutachter vom Sozialverband Tacheles an der neunstündige Verhandlung teilnahm, äußerte sich anerkennend über die sachliche und respektvolle Handlungsführung durch das Gericht: Alle Redebeiträge wurden ernst genommen, egal, ob von Minister Hubertus Heil oder von Sozialreferent Harald Thomé. Das sei durchaus ungewöhnlich!
Die "Gegenseite" verharmloste natürlich die Sanktionspraxis: Sie seien nur letztes Mittel und würden nur sehr ungern verhängt, niemand käme durch sie unter die Räder, und Wohnungsverlust gäbe es gar nicht, weil es ja immer Hilfen gäbe, z.B. Darlehen. Die Vertreter der Sozialverbände, des DGB, des Sozialgerichtstages und des Anwaltsvereins haben demgegenüber ein realistisches Bild vom Umgang mit Sanktionen und deren Wirkungen vermittelt. Harald Thomé konnte sich dabei auf die online-Befragung stützen, an der 21.166 Menschen teilgenommen hatten.
In einigen Monaten wird es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts geben. Harald Thomé schätzt ein, dass alles möglich ist: das Verbot von Sanktionen oberhalb von 30%, Sachleistungen oder Geldscheine statt Kürzungen oder ... Er will nicht spekulieren. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit Detlef Scheele räumte am Ende der Verhandlungen ein, er habe kein Problem, wenn die 100%-Regelleistungssanktionen und die KdU-Sanktionen wegfallen.
Das zumindest müsste also die Untergrenze sein. Das ist zwar weniger, als z.B. DIE LINKE fordert und nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2010 zu erwarten wäre. Aber Harald Thomé ist überzeugt, dass sich im Bereich der Sanktionen wenigstens etwas zum Besseren ändern werde und damit Betroffenen tatsächlich geholfen wird.
Es muss ja nicht das letzte Bundesverfassungsgerichtsurteil zu Hartz IV sein!
Dr. Dorothea Wolff
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